İstanbul – Mittendrin
„Wenn die Welt nur aus einem Land bestanden hätte, wäre Istanbul davon die Hauptstadt." – So soll es einst Napoleon Bonaparte auf den Punkt gebracht haben. Eine Stadt, die Orient und Okzident ineinander fließen lässt. Mein Weg als Deutsch-Türkin sollte mich jedoch erst mit meinen fast 22 Jahren in diese wunderschöne Stadt führen. Und das nicht für einen kurzen Urlaub, sondern für mein sechswöchiges Praktikum - ganz allein und mittendrin in Beyoğlu. Das Ganze auch noch kurz nach dem Putschversuch vom 15. August, dessen Aufklärung noch heute fortgeführt wird und daher während meines Aufenthalts in der ganzen Stadt Sicherheitsbeamte zu sehen waren.
Beyoğlu, „das Wahrzeichen des westlich geprägten Istanbul“, ist ein paradoxerweise äußerst harmonischer Wirrwarr, ein blühendes Geschäftszentrum. In den Gassen des alten Diplomatenviertels drängeln sich zwischen Cafés, Restaurants, Einkaufsläden, schicken Boutiquen und unzähligen Straßenverkäufern die unterschiedlichsten Menschen. Solche, die sich sonst nirgendwo gemeinsam blicken lassen würden. Von der wohlhabenden Oberschicht, die sich die teuren Altbauwohnungen leisten kann, bis hin zu Händlern aus Anatolien, die ihr Glück in der Metropole suchen. Bettler, Prostituierte, Transsexuelle, unzählige Flüchtlinge, jede Menge Touristen, Studenten, Geschäftsleute, Straßenmusikanten und Künstler. Die Hauptader ist die vom „Taksim“- Platz bis zum „Tünel“ führende „İstiklal Caddesi“, eine ca. 1,7 km lange Einkaufsstraße. In der Mitte der Straße verlaufen die Schienen der historischen Straßenbahn. Für mich ein Paradies aus Buchhandlungen und wunderschöner Straßenmusik. Zugegeben, war es mir bis kurz vor Abreise etwas mulmig im Bauch. Im Herzen einer Stadt zu sein, die in letzter Zeit viele traurige Terroranschläge erleben musste, bereitete mir bis zum letzten Tag manchmal Unbehagen.
Von Allem etwas
Ich für meinen Teil kann behaupten, Istanbul ist eine Faszination. Eine kunterbunte Stadt, die als griechische Stadt Byzantion gegründet wurde, als Konstantinopel zur Hauptstadt des oströmischen-byzantinischen Reichs aufstieg, nach der osmanischen Eroberung erneut zur größten Metropole Europas wurde und heute zu den bedeutendsten Metropolen der Welt gehört. Sie ist mit ihren historischen Gebäuden, Museen, Moscheen, Medresen, Kirchen, Synagogen, Basaren, traditionellen Restaurants und unzähligen weiteren Sehenswürdigkeiten und mit ihren Minderheiten eine lebendige Geschichte. Die einzelnen Stadtteile, die regelrecht die Pluralität im osmanischen Volk wiederspiegeln, sind noch heute kulturell von der damaligen Aufteilung der muslimischen und nicht-muslimischen Einwohner geprägt.
Der im Norden des asiatischen Teils gelegene Stadtteil „Üsküdar“, mit dem im Bosporus gelegenen Leanderturm (türk.: Kız Kulesi) als Wahrzeichen, ist bis heute symbolisch für die konservative muslimische Gesellschaft Istanbuls. Während der Norden des europäischen Teils insbesondere mit ihren Künstlervierteln das Zentrum des modernen Istanbuls bildet. Auch ich befand mich wie bereits erwähnt während des Praktikums hauptsächlich in Beyoğlu, mit dem bekannten Galata-Turm als Wahrzeichen, der ursprünglich ein Teil der unter den Genuesen errichteten Stadtbefestigung war. In diesem Stadtteil haben traditionell die Europäer Istanbuls gelebt. Das bekannte „Pera-Palace“ Hotel brachte zudem reichlich Prominenz unter, darunter auch Berühmtheiten wie Agatha Christie und Greta Garbo.
Das Gefühl, ein Reiskorn zu sein
Istanbul ist eine Metropole. Gerade wenn man außerhalb des Zentrums wohnt, kann es eine ganze Weile dauern, bis man sein Ziel erreicht hat. Meine Unterkunft war in Avcılar und somit durfte ich jeden Morgen etwa eine Stunde lang mit dem „Metrobus“ nach Mecidiyeköy fahren, um dort in die Metro umzusteigen. Der Metrobus ist ein langer Bus, der seine eigene abgegrenzte Strecke hat und somit vom normalen Autoverkehr verschont bleibt. Mit ihren rund 14 Millionen Einwohnern ist Istanbul die bevölkerungsreichste Stadt der Türkei. Hinzukommen eine ganze Menge Touristen, Flüchtlinge und noch gar nicht registrierte Einwohner der Metropole. Kurzgefasst, egal ob man mit dem Auto oder den öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs ist, es gibt immer Stau, Gequetsche, Gedrängel und Streit. Ich fühlte mich im Metrobus jedes Mal wie ein Reiskorn, das gut aufpassen muss, um nicht aus dem Tellerrand zu fallen. Dabei musste ich auch noch ganz viel Glück haben und sehr früh aufstehen, um überhaupt in den Metrobus hineinzupassen. Die Not macht jedoch bekanntlich erfinderisch. Somit entdeckte ich, dass ich zunächst von Avcılar mit dem Metrobus in die entgegengesetzte Richtung nach Beylikdüzü fahren konnte, um dort von der ersten Haltestelle in den Metrobus Richtung Mecidiyeköy einsteigen zu können. Dies bedeutete kurzgefasst, dass ich mir mit einer halben Stunde weniger Schlaf auch noch einen Sitzplatz ergattern konnte und dann während der Fahrt diesen Schlaf einfach nachholte. Es sei denn, ich musste älteren Menschen meinen Platz geben, was im Umkehrschluss hieß, dass ich 20 Minuten länger stehend fahren durfte. Dieses Risiko konnte ich aber minimalisieren, indem ich mich in die Innenseite der hinteren Zweierplätze vergrub und im schlimmsten Fall mein äußerer Sitznachbar aufstehen musste. Istanbul ist nämlich eine rasende Stadt. Im Alltag hat man keine Zeit träumerisch durch die Gegend zu laufen. Man ist stets aufmerksam, handelt sogar bei ganz alltäglichen Aktivitäten recht strategisch und zugegeben, auch kämpferisch. In der Masse muss man ständig auf seine Taschen aufpassen und die Augen offen halten, um sich vor Alltagsgefahren wie beispielsweise dem Verkehrsdurcheinander zu schützen.
Der Duft von Salz
Wenn es etwas gibt, das mir noch immer bei jeder Erinnerung Schmetterlinge in den Bauch zaubert, dann ist das die Fahrt mit der Fähre über den Bosporus. Die Fahrten von Beşiktaş oder Karaköy nach Kadıköy mit einem atemberaubenden Ausblick auf das weite Meer. Ich saß immer ganz außen auf den Holzbänken, sodass ich nah am Wasser war. Das Rauschen der Wellen, der frische Wind, die fröhlichen Möwen, der Anblick einer unglaublich schönen Stadt. Das Gefühl der absoluten Freiheit. Der Freiheit, einfach in Gedanken zu versinken, zu träumen und abzuschalten. Die Fahrt über das Meer wurde bei mir bald zu einem Grundbedürfnis. Ich fuhr nach der Arbeit grundlos auf die andere Seite und schlenderte anschließend in Kadıköy durch die Menge. Abends, wenn der Duft von Anis die engen Gassen mit den Fischrestaurants füllte, hatte ich das Gefühl, mich in einem Istanbul-Roman zu befinden. Und genau das, liebe Leserin/ lieber Leser, genau das ist es, was Istanbul so unverwechselbar macht. Diese schöne Melancholie, dieser Tanz der Gotteslästerung mit dem herzergreifenden Gebetsruf, das Hin- und Hergerissensein zwischen Helden und Antihelden, das Gleichsein unter der Masse und zugleich die weite Schere zwischen Arm und Reich machen Istanbul zu Istanbul.
„Wenn das Herz Istanbul nicht liebt, was versteht es dann von der Liebe?“ schreibt der berühmte Istanbul-Dichter Yahya Kemal über diese Stadt. Denn nicht die zahlreichen Sehenswürdigkeiten oder der weltgeschichtliche Hintergrund der Stadt allein machen Istanbul so unvergesslich. Es ist diese Seele, die allen Formen der Liebe, von der irdischen bis hin zur spirituellen, in dem ganzen Chaos ihren Platz gegeben hat.
Hayrunnisa Akar