Pandemie und Migrationshintergrund - (k)ein Zusammenhang?
Die Diskussionen in den letzten Wochen um das höhere Infektionsgeschehen unter Migranten muss dringend versachlicht werden, um zielgerichtet Lösungen zu schaffen. In allen Bevölkerungsgruppen gibt es Menschen, die leichtsinnig mit den Regeln umgehen und die Pandemiemaßnahmen missachten. Evidenzbasierte Zusammenhangsanalysen zwischen dem Migrationshintergrund und dem Infektionsgeschehen sind aufgrund fehlender Datenlage nicht möglich. Verantwortungslose gibt es in allen Bevölkerungsgruppen unabhängig der kulturellen, religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit.
Deshalb ist auch der Versuch, anhand eines Namensvergleichs einen Zusammenhang zwischen dem Migrationshintergrund und einem höheren Infektionsgeschehen herzustellen – mag die Absicht doch im guten Gewissen liegen, helfen zu wollen - methodisch falsch und nicht zielführend. Erstens können „deutsche“ Namen durchaus einen Migrationshintergrund haben (eine Fr. Fischer kann aus Russland oder Israel stammen, würde aber bei dieser Methode unter die Herkunftsdeutschen fallen) und zweitens ist die Migrationszugehörigkeit per se nicht ursächlich für ein höheres Infektionsrisiko, denn sonst müsste dies auch für Migranten aus der Mittel- und Oberschicht gelten, die im Homeoffice arbeiten und mehr Wohnraum für sich haben. Die aktuell höheren Infektionszahlen in östlichen oder südlichen Bundesländern im Vergleich widersprechen zudem dieser Annahme; eine Kulturalisierung sozialer Probleme bedient in erster Linie die kruden Theorien der Rechtspopulisten. Erste internationale Studien aus den USA oder Großbritannien zeigen nämlich Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen sozialer Lage und höherem Infektionsgeschehen, unabhängig des Migrationshintergrundes.
Um das höhere Infektionsgeschehen unter Migranten zu erklären, müssen daher soziale und wirtschaftliche Parameter untersucht werden, um einen sachdienlichen Zusammenhang herzustellen und zielgerichtete Lösungen anzubieten. Krankenhäuser wie auch das RKI erheben jedoch keine soziodemographischen Daten. So bestehen Wissenslücken, die zukünftig Gegenstand zahlreicher Studien werden, aber in der Gegenwart viel Raum für Interpretationen in eine falsche Richtung schaffen.
Rund ein Viertel der Migranten in Deutschland sind in systemrelevanten Berufen beschäftigt, in bestimmten Berufsgruppen wie in der Reinigung, Pflege oder Gesundheitsberufen, Transport, Logistik sind sie zum Teil deutlich überproportional vertreten; in den systemrelevanten Berufsgruppen sind sie häufiger in prekären Verhältnissen als in nichtsystemrelevanten Berufen (DeZim Research Notes, 5/2020). Die Beschäftigten in den systemrelevanten Berufen haben durch ihren Einsatz unser Gemeinwohl aufrechterhalten, deren Relevanz für unser System erst in der Pandemie deutlich wurde. Eine Aufwertung ihrer Berufe durch eine gerechtere Entlohnung ist zwingend notwendig, statt sie mit Applaus abzuspeisen.
Die durchschnittlich dichteren Wohnverhältnisse von Migranten stellen ein weiteres höheres Infektionsrisiko dar. So besteht (Mikrozensus 2018) die Haushaltsgröße in der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund durchschnittlich bei 1,87 Personen, unter der Bevölkerung mit Migrationshintergrund bei 2,21 und unter Türkischstämmigen bei 2,9 Personen. Damit bestehen höhere Infektionsrisiken für Familienmitglieder auf engeren Räumen für Migranten.
Die Altersstruktur in der Bevölkerung (Mikrozensus 2018) kann den geringeren Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund in den Impfzentren erklären; allerdings beruht diese Einschätzung bisher nur auf einer subjektiven Momentaufnahme. Die herkunftsdeutsche Bevölkerung ist durchschnittlich älter als die Bevölkerung mit Migrationshintergrund: So sind unter den Türkischstämmigen 7,3%, unter der Bevölkerung mit Migrationshintergrund 9,6% und unter der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund 25,1% 65 Jahre und älter. Vor diesem Hintergrund ist es nur selbstverständlich, dass der Anteil von Migranten aus dieser Alterskohorte in den Impfzentren signifikant niedriger ist. Dies kann nicht mit einer geringeren Impfbereitschaft erklärt werden, ist methodisch falsch und führt damit zu falschen Schlussfolgerungen. Zudem besteht in Teilen der Bevölkerung – ob mit und ohne Migrationshintergrund - eine generelle Impfskepsis, unter denen sich Verschwörungstheorien von der Einpflanzung von Chips bis zur Unfruchtbarkeit unter Frauen ausbreiten – für Neuzugewanderte kommen erschwerend noch Sprachdefizite in Deutsch hinzu.
Hier ist die Politik angehalten, eine aktive und vor allem medizinisch begründete Impfkampagne in verschiedenen Sprachen zu starten. Eine Möglichkeit könnte die Modifikation der Impfpriorisierung von bisher Alter bzw. Vorerkrankungen auf Stadtteile mit hohen Inzidenzwerten sein. Denn diese Menschen fahren oft mit den ÖPNV zur Arbeit und sind einer höheren Infektion im Beruf ausgesetzt, im Falle einer Infektion gefährden sie sowohl ihre Haushaltsmitglieder als auch ihre Wohnquartiere.
Insgesamt zeigt diese Debatte, wie wichtig die Einbeziehung der Wissenschaft in politische Entscheidungen oder Erklärungsversuchen sein kann, um Fehlentscheidungen zu vermeiden, so manchen Missverständnissen vorzubeugen und damit den Raum für Interpretationen nehmen.
Caner Aver