Enttäuschungen in Deutschland
Im Enttäuschungsexpress zu den Schicksalstagen eines Bundespräsidenten
Neulich schrieb eine Freundin auf Facebook, dass sie ein neues Lieblingswort habe: Enttäuschung. Damit steht sie in diesen Tagen nicht alleine da. Von persönlichen Enttäuschungen, die man so mit sich trägt mal ganz abgesehen, ist in diesen Tagen eine ganze Nation unisono enttäuscht. Aus unterschiedlichen Gründen, aber wegen ein und derselben Ursache: Der ehemalige Bundespräsident.
Erste Station:
Viele Migranten, insbesondere türkischer Herkunft, sind von den deutschen Behörden - allen voran vom Verfassungsschutz und der Polizei - enttäuscht. Nicht minder sind sie von den Werten, die sich die deutsche Medienlandschaft setzt, enttäuscht: Während ihre Puste bei der Forderung nach Aufklärung der NSU Morde ziemlich schnell ausging, währte sie zum Ausgraben der Wulff-Klüngeleien ununterbrochene acht Wochen. Fazit: Neun Menschenleben, die man aus rassistischen Motiven brutal auslöschte, sind ihnen, also den Medien, nicht annährend so wichtig, wie das Leben bzw. der Lebensstil bzw. die Freundschaften des Ex-Bundespräsidenten.
Doch lassen wir den Enttäuschungsexpress weiter rauschen, zweite Station:
Viele Muslime sind enttäuscht, weil der erste Staatsoberhaupt, der ihren Glauben als einen Teil dieses Landes anerkannte, nicht mehr Staatsoberhaupt ist. Sie sind enttäuscht, dass statt ihm nun jemand Staatsoberhaupt werden soll, der ihren Glauben als rückständig klassifiziert, sie, die Muslime weniger als einen Teil dieses Landes wahrnimmt, sondern vielmehr als 'voraufgeklärte Politikvertreter' und Fremde, die in einer 'Koexistenz' leben. Der dem Hetzer der Nation 'Mut' attestiert und ihn somit zum Helden kürt. Aussagen, die für sich stehen und auch in ihrem richtigen Zusammenhang einen schlechten Nachgeschmack hinterlassen.
Weiter. Dritte Station:
Die Bundeskanzlerin, also diejenige, die wirklich Macht hat, ist enttäuscht, weil sie feststellen musste, dass auch ihre Macht begrenzt ist. Ausgerechnet von dem im Sterbebett liegenden Koalitionspartner musste sie sich diktieren lassen, wer der nächste Bundespräsident wird. Hingegen dies wiederum dazu führt, dass viele von Merkel enttäuscht sind, da sie das hat mit sich machen lassen anstatt der zwei Prozent Partei mal ordentlich die Leviten zu lesen.
Vierte Station:
Die Grünen sind enttäuscht, weil der Neue, den eigentlich sie vorgeschlagen hatten, überwiegend der SPD in den Korb gelegt wird.
Fünfte Station:
Die Linken sind enttäuscht, weil mit ihnen niemand, wirklich niemand mehr spielen will. Noch nicht mal ihr Wunschkandidat, den sie mühevoll aus der Kabarett-Mottenkiste ausgegraben hatten.
Sechste Station:
Die Medien sind enttäuscht, weil sie von einigen als Königsmörder beschimpft werden, obwohl sie sich selbst als Aufdecker bzw. Aufklärer verstehen.
Endstation:
Nicht zuletzt ist Wulff natürlich selbst enttäuscht. Er trat an, um für mindestens fünf Jahre Bundespräsident zu bleiben und nun, nach kaum 600 Tagen gehen musste und somit als der 'Blitzpräsident' in die deutsche Geschichte eingehen wird. Nix, worauf man stolz sein kann.
Ganz gleich wie und wen die Enttäuschung auch trifft, klar ist: Man steckt sie nicht einfach so weg. Man ist wütend oder traurig, der Reihe nach oder gleichzeitig. Viele in der Migrantencommunity sind traurig und/oder wütend. Sie sind traurig, weil der von ihnen geschätzte Bundespräsident zurücktreten musste. Wütend, weil der baldige eher als Spalter und weniger als Versöhner wahrgenommen wird. Auch, weil er sich kürzlich noch gegen einen Trauerakt für die Opfer des rechten Terrors aussprach und dies damit begründete, dass ein Trauergottesdienst ihm nicht die richtige Form zu sein schiene, um Toter zu gedenken, 'deren Ermordung schon so lange zurückliegt'.
Man möge nur kurz einmal daran denken, welche Reaktionen man (gerade von der Theologenriege, zu der Gauck ja gehört) mit dem Vorschlag kassieren würde, Weihnachten künftig abzuschaffen. Die Geburt Christi liegt schließlich so lange zurück, dass es eigentlich keinen Sinn macht, sich jedes Jahr aufs Neue darauf zu freuen. Absurd.
Zur größten Enttäuschung an diesen Tagen zählt deshalb die Entscheidung Gauck, die vor allem der Kanzlerin angeheftet werden kann. Man wünscht sich wirklich, sie hätte nie nachgegeben.
Andrerseits, was blieb ihr anderes übrig? Einen Koalitionsbruch und deren Folgen - weitere europäische Krise, Börseneinsturz etc. - riskieren? Hätte sie ihre Macht für einen machtlosen Posten aufs Spiel setzen sollen? Nein, das wäre töricht gewesen.
Das Amt des Bundespräsidenten ist in unserem Land mehr von Symbolen und Gesten als von Handlungen geprägt. Erstere mögen wichtig sein, Letztere hingegen sind fundamental. Deshalb: So what! Beruhigen wir uns wieder und warten ab, wie er, Gauck, das Amt besetzen wird. Letztendlich können uns diejenigen, auf die wir die wenigsten Hoffnungen setzen, uns auch am wenigsten enttäuschen.
Kader Kismet
Der Aberglaube ist bei vielen Türken ein wichtiger Bestandteil ihres festen Glaubens. Wir glauben an ein anstehendes Unheil, wenn das Auge zuckt, bekommen Fieber vor Angst, wenn nachts jemand pfeift oder sich die Nägel schneidet, weil wir dann jeden Augenblick mit einem Cin rechnen. Lesen vom Kaffeesatz und hängen uns überall ein blaues Auge auf, das uns vor bösen Blicken schützen soll. Nicht zuletzt haben wir einen äußerst unkritischen Glauben an das Schicksal, was wir als 'Kader Kismet' bezeichnen. So hört man oft, dass wenn etwas vom Schicksal vorbestimmt ist, man tun und machen kann, was man will, aber mit Nichts dagegen halten kann.
Abergläubisch kann man nun die Frage stellen, ob es vorbestimmt war, dass Gauck Bundespräsident werden soll. Anders: Ist es Gaucks Schicksal, Bundespräsident zu werden? War es Wulffs Schicksal so früh einpacken zu müssen?
Jein. Zwar schaltet sich spätestens wenn Wulff ins Spiel kommt, der Verstand wieder ein, aber ganz ohne Aberglaube geht es auch nicht.
Wulffs Rücktritt ist kein Schicksalsschlag gewesen, sondern verlief in Eigenregie. Schuld sind nicht seine guten Freunde, oder die bösen Medien, sondern er selbst. Das Einzige, was man den Medien zu Recht vorwerfen kann ist, dass sie Staatsskandale mit unterschiedlicher Vehemenz angehen, was letztendlich auf einen ethisch schwachen Wertekanon schließen lässt. Anders aber bei Gauck. Sicherlich ist auch Glück eine Art des Aberglaubens. Gauck hat in den letzten Tagen eine sehr anständige Portion davon gehabt. Bis jetzt. Bleibt abzuwarten, was ab dem Jetzt kommt.
Fortsetzung folgt. Ganz sicher.
Serap Güler