Bildungsrepublik

 

Sozialstaat vs. Bildungsrepublik?

 

Das Ziel ist bekannt: Wir wollen Bildungsrepublik werden. Das heißt, wir wollen 'Bildung für alle'. Wir wollen das 'Land der kluge Köpfe' sein, das 'Land mit den innovativen Ideen', ganz gleich woher die Köpfe mit den Ideen kommen. Wir streben also nach einem Ziel, für das sich jegliche Mühe lohnt.

Soweit so gut. Aber was ist mit dem Weg zum Ziel?

Nun ja, dieser ist noch zu hölzern.

Dabei steht nicht das allzu oft kritisierte Bildungssystem als Sinnbild des hölzernen Weges. Das deutsche Bildungssystem ist trotz aller Kritik kein schlechtes. Es wird nur zu oft zu schlecht umgesetzt und ist somit ein Paradebeispiel dafür, dass Theorie und Praxis nicht immer übereinstimmen. Denn theoretisch hat in Deutschland jedes Kind, das die Hauptschule besucht, auch die Möglichkeit später eine Universität zu besuchen. In der Praxis wird ihm jedoch diese Möglichkeit zu oft verwehrt. Zum einen, weil Systeme verfänglich sein können. Zum anderen, weil sie von Menschen betrieben werden.

Zwei neue Studien

In vergangener Woche wurden zwei sehr interessante, voneinander unabhängige Studien vorgestellt. Zwei Studien, die trotz unterschiedlicher Ausrichtungen einige Schnittmengen vorweisen und sich sogar gegenseitig bestätigen. Beiden Studien liegt dabei zugrunde, dass ihr primärer Forschungsgegenstand zwar nicht die Migranten sind, ihre Ergebnisse sie aber aus nächster Nähe berühren. Und auch, wenn man so will, ihr Bild vom 'kulturspezifischen Bildungsversager' gerade rücken, indem sie zeigen, dass es sich eher um den 'sozioökonomischen Bildungsversager' handelt.

'Herkunft zensiert?'

Die erste Studie mit dem Titel 'Herkunft zensiert? Leistungsdiagnostik und soziale Ungleichheit an Schulen' wurde von der Vodafone Stiftung in Auftrag gegeben und kommt zu dem Ergebnis, dass nicht nur Leistungen in die Schulnoten einfließen, sondern auch sozialökonomische Faktoren. Es gebe, so die Studie, einen deutlichen Zusammenhang zwischen Schulnoten und sozialem Status. So könnten beispielsweise deutlich mehr Arbeiterkinder das Gymnasium besuchen, wenn man sie bei gleicher Leistung nicht mehr ungleich benoten würde.

Was von den Forschern nicht belegt werden konnte, war der Vorwurfs, dass Kinder aus sozial schwachen Familien generell weniger Anstrengungsbereitschaft zeigen. Ebenso wenig konnte belegt werden, dass die Migrationsgeschichte bei der Notenvergabe eine Rolle spielt. Gerade Letzteres macht die Studie nicht nur aus bildungspolitischer, sondern auch aus integrationspolitischer Sicht interessant. Sisyphusartig versuchen 'Gutmenschen' und 'Schönredner' seit Jahren beim Thema Bildung weg von dem Schein-Problem 'ethnische Herkunft' zu kommen und hin auf das eigentliche Problem 'soziale Herkunft' zu lenken. Die, die es angeblich besser wissen, werden ebenso nicht Müde, die Bildungsdefizite auf die Migrationsgeschichte, gar auf die religiöse Zugehörigkeit zurückzuführen.

Laut dieser Studie nun scheinen beide falsch zu liegen. Die Gutmenschen, weil sie davon ausgingen, dass sich, ähnlich wie der bourdieusche Habitus, auch das Desinteresse an Bildung aus der sozialen Situation ableiten lässt. Die Besserwisser liegen falsch, weil das Fundament ihrer Defizitanalyse die Herkunftskultur ist.

Jetzt wäre es jedoch ebenso falsch, die Ergebnisse der Studie, die empirisch nicht wirklich neu sind, als alleingültig zu bewerten. Dies wäre ungerecht gegenüber all den Lehrern, die tagtäglich versuchen, ihre Arbeit so gerecht wie möglich auszuführen. Die Ursache, warum Kinder aus sozial schwachen Familien häufiger Bildungsdefizite vorweisen, ist ebenso vielschichtig wie die Gesellschaft selbst. Es ist zu einfach jede erfolglose Biographie oder jede schlechte Note auf ein Studienergebnis zurückzuführen. Der Sinn und Zweck solcher Studien ist es weniger vorhandene Missstände zu erklären, als vielmehr auf Missstände aufmerksam zu machen. Einzelschicksale erklären können und sollen sie nicht.

'Deutsche Zustände'

Die zweite Studie ist eine Langzeitstudie namens 'Deutsche Zustände', die von dem Sozialforscher Wilhelm Heitmeyer (dieser gilt u.a. als der Schöpfer des Begriffes 'Parallelgesellschaft') vorgestellt wurde. Forschungsgegenstand hier war die deutsche Gesellschaft, ihre Werte, ihre Einstellungen, ihre Vorurteile, ihre Ängste.

Die Ergebnisse dieser Studie sind allesamt brisant und bestätigen vor allem das Bild einer immer weiter auseinandergehenden Gesellschaftsschere. Heitmeyer selbst bewertet die Ergebnisse bzw. die deutsche Gesellschaft ausgehend von den Ergebnissen als 'vergiftet'. So sei eine zunehmende soziale Spaltung der Gesellschaft zu beobachten, soziale Randgruppen, v.a. Obdachlose und Langzeitarbeitslose, würden zunehmend diskriminiert werden, was die zentralen Werte des Zusammenlebens gefährde.

Ökologisches Prinzip all over

Die Studie zeige auf, so Heitmeyer weiter, dass nur der, der etwas leiste, der effizient ist, etwas zähle. Dieses ökologische Prinzip, das seinen Geltungsbereich bisher in der Wirtschaft gehabt habe, habe sich nun auch in die Wohnzimmer sowie in die Schulen eingenistet. Dass bei Letzterem nicht immer die Leistung allein zählt, zeigt zwar die Vodafone-Studie, aber der Soziologe stellt gleichzeitig klar, dass jeder, der zu einer schwachen Gruppe gehöre, 'ganz schlechte Chancen' auf gesellschaftliche Integration und Anerkennung habe.

Auch diese Studie, die ohnehin schon explosiv ist, birgt integrationspolitisch jede Menge Zündstoff. Sie zeigt vor allem, dass eine erfolgreiche Integration, zu der eindeutig auch Bildung zählt, aus eigener Kraft nicht zu bewerkstelligen ist, wenn man zur 'falschen' Schicht gehört. Ebenso führt sie vor, dass Integration anscheinend doch eine Einbahnstraße ist.

Und nun?

Es ist wichtig solche Studien zu kennen, auch wenn sie niemals das Ganze wiedergeben, sondern immer nur ein marginaler Teil der Wirklichkeit sind. Auch muss man jede Studie mit Vorsicht genießen (gerade Heitmeyers Studie verdient eine längere und ausführlichere Auseinandersetzung und lässt viele kritische Fragen zu). Das ist klar. Es ist aber auch wichtig, solche Ergebnisse ernst zu nehmen. Die zeitliche Kongruenz hinsichtlich der Veröffentlichung der beiden Studien kann man sicher Merkur selbst unterschieben. Ihre Ähnlichkeit in punkto fehlende soziale Gerechtigkeit ist aber nicht dem Zufall geschuldet. Beide Studien machen anhand unterschiedlicher Forschungsgrundlagen und Vorgehensweisen auf ein und dasselbe Phänomen aufmerksam, das in dieser Form, in einem Sozialstaat nicht existieren dürfte bzw. darf, anscheinend aber nicht nur existiert, sondern auch wächst. Umso ernsthafter und tiefer muss über sie diskutiert werden - nicht nur innerhalb Stiftungen und Forschungseinrichtungen. Nicht nur die elitär-intellektuelle Speerspitze, sondern auch das dumpfe Ende muss in die Diskussion mit einbezogen werden. Allen voran müssen die Ergebnisse an die Eltern vermittelt werden.

Eltern in die Pflicht!

Der Versuch, die sich ins Fleisch gefressene Schere aus den Köpfen zu kriegen, ist ein mühsamer, oft unmöglicher Prozess. Hierbei werden wir nicht immer erfolgreich sein. Wichtiger ist es, den eigenen Weg selbst zu ebnen. An vorderster Front stehen die Eltern in der Pflicht, wenn es um die Bildung ihrer Kinder geht. Sie müssen erwachen! Derartige Studien belegen noch einmal mehr, dass es heute - und ehrlich gesagt auch gestern schon nicht - nicht ausreichend ist, die Bildung allein der Institution Schule zu überlassen. Sie müssen sich selbst für die Bildung ihrer Kinder einsetzen - wenn sie denn wirklich wollen, dass es ihnen einmal besser geht. Sie müssen für ihre Kinder da sein, hinter ihnen und wenn nötig auch vor ihnen stehen und sie vor Ungerechtheiten schützen. Gerade beim Thema Bildung ist der mündige Bürger gefragt. Der, der das Ziel am besten vor Augen hat. Der weiß, wohin er will und vor allem den richtigen Weg dorthin kennt, ihn einfach kennen muss, wenn er ohne Umwege dorthin will. Die Navigation des mündigen Bürgers ist sein Verstand, sonst nichts.

 

 

Serap Güler