Glaubwürdigkeit und Identität
Die in der Öffentlichkeit defizitorientierte Integrationsdebatte wurde bereits in den ersten Wochen des neuen Jahres wieder beflügelt. Da fragte sich der libarale hessische Integrationsminister nach der Bereitschaft der deutschen Gesellschaft, einen asiatisch aussehenden Minister und Vizekanzler noch länger akzeptieren zu können. Auch wenn es sich um einen innerparteilichen Machtkampf handeln mag, war es doch sehr unglücklich, dies mit der ethnischen Keule auszutragen. Oder wollte Hahn dadurch eine neue Debatte anstoßen? Pfarrer Jürgen Fliege schloss sich dieser Diskussion mit seiner Aussage um türkenfreie Kindergärten und Schulen an und hat Mut bewiesen; für mich unerklärlich, warum beide Aussagen endlich nicht zu einer öffentlich progressiven Debatte geführt haben - denn im Prinzip hat Fliege nur die Wahrheit ausgesprochen. Hinzu kommt der selbsternannte Integrationspolitiker Buschkowsky, der genau wie Sarrazin, sozio-ökonomische und (aufenthalts-) rechtliche Probleme der Migranten aus seinem Viertel in Berlin ethnifiziert, auf die gesamte Republik projiziert und dadurch immer wieder größtmögliche Aufmerksamkeit erlangt. Die Diskussionen um die Sinnhaftigkeit der doppelten Staatsbürgerschaft, von Moscheebauten, der Muttersprachenförderung, der gesellschaftlichen und juristischen Stellung von und der Umgang mit fremden Kulturen und Religionen sind Zeugnis genug für ein nach wie vor verstörtes Miteinander. Nun meldet sich Innenminister Friedrich wieder zu Wort und fordert die Abschiebung von 'radikalen Islamisten', auch ohne Straffälligkeit. Die Antwort auf die Fragen, wohin er denn Konvertierte abschieben möchte oder wer wann als extremistisch gilt, bleibt er schuldig - wieder eine populistische Floskel aus dem konservativen Lager. Hinzu kommt die ewige Bittstellung der Türkei zur Aufnahme in die EU. Obwohl das Bundesverwaltungsgericht am 19.03.2013 in einem Urteil wieder klargestellt hat, dass türkische Arbeitnehmer im Vergleich zu EU-Bürgern nicht diskriminiert und ihre Freizügigkeitsrechte nicht verschlechtert werden dürfen. Maßgeblich dabei sei die Rechtslage aus dem Jahre 1980. Daran wird sich auch unter dieser Regierung nichts ändern.
Zudem wird die Debatte durch die NSU-Morde bzw. den Umgang damit zusätzlich aufgeheizt. Gerade jetzt aber kommt es darauf an, seitens der Politik Farbe zu bekennen und mit einer angemessenen Reaktion aus allen politischen Lagern das Vertrauen der Menschen, besonders die der 16 Mio. Migranten, zu gewinnen. Doch es passiert nicht viel. Das Treffen mit der Türkischen Gemeinde Deutschlands hatte Bundespräsident Gauck abgelehnt, um durch eine Einladung auf Schloss Bellevue oder der Entschuldigung von Kanzlerin Merkel nach öffentlichem Druck Vertrauen zu gewinnen und Betroffenheit zu signalisieren. 'Taten werden gefordert statt Betroffenheitsrhetorik' so eine Angehörige aus der Familie eines Opfers. Mehrere Untersuchungsausschüsse versuchen seitdem das Behördenversagen um die NSU-Terroristen aufzuklären; dabei wird der schwarze Peter im Untersuchungssauschuss hin und her geschoben. Jüngst zu dieser Debatte, wie könnte es auch anders sein, musste Necla Kelek wieder ihre Meinung kundtun und dabei erneut Populismus mit Wissenschaft vermischen. Auf ihre sehr kurze Rezension und ihre, zumindest nach außen hin sichtbar gewordene Betroffenheit, folgt im zweiten Teil prompt der Vergleich der Morde im Namen des Islam. Dabei würden 'Islam- und Türkenverbände' versuchen, die Morde zu tabuisieren, um einen kritischen Dialog mit dem Islam zu verhindern. Die Morde sind passiert, weil die Opfer türkischstämmig waren und nicht wegen ihrer religiösen Zugehörigkeit zum Islam; der Griechischstämmige wurde wegen seines Aussehens Opfer der NSU-Terroristen. Demnach ist die Kritik der türkischstämmigen Verbände (und nicht 'Türkenverbände', wie Fr. Kelek es in ihrem Artikel schreibt) berechtigt, wenn sie als Grund für die Morde das 'negative Bild des Türken und des Islam im Allgemeinen' bei 'Großteilen der Bevölkerung' nennen. Wesentlich verursacht durch die öffentlichen Debatten über den Islam und 'gescheiterte' Integration und 'die Fokussierung auf Zwangsheirat, Kopftuchverbote oder Islamisierung Deutschlands sowie Verschärfung der Familienzusammenführung bei türkischen Staatsbürgern'. Vergleichen wir: Zehn unschuldige Herkunftsdeutsche werden in der Türkei auf dieselbe Weise aus rassistischen Gründen kaltblütig ermordet, Behörden vernichten oder halten relevante Akten zurück, Zeugen können sich nicht erinnern und die politische Reaktion aus Ankara wäre die gleiche wie die in Deutschland. Die EU-, Menschenrechts-, Rechtsstaatlichkeits-, Kultur-, Zivilisations-, Rassismus-, und Sicherheitskeule sowie viele andere Keulen würden ihr Übriges tun...
Parallel zu diesen Entwicklungen konnte die strukturelle Stellung der überwiegend muslimischen Migranten nicht wesentlich verbessert werden. Die strukturelle Diskriminierung erschwert den gleichberechtigten Zugang zu den gesellschaftlichen Ressourcen. Es ist kein individuelles Phänomen, in der ein 'Einheimischer' einen 'Eingewanderten' wegen seiner Herkunft persönlich angreift oder ausgrenzt. Die Ausgrenzung und Benachteiligung von Migranten in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen und Strukturen ist offenkundig und wissenschaftlich nachgewiesen. Eine öffentliche, sachliche und lösungsorientierte Debatte findet dagegen, wenn überhaupt, nur marginal statt. Hier seien nur die Undurchlässigkeit des Bildungssystems für sozial Benachteiligte, die Diskriminierung auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt und der Aufstieg in politischen Parteien genannt. Im letzteren Fall ist eine gleichberechtigte Öffnung aufgrund der zu verteilenden geringen Posten und Ressourcen auch nicht im Vorfeld der Bundestagswahlen im September 2013 zu erwarten; wieder werden alle Parteien versuchen, durch die Aufstellung vorzeigbarer einiger weniger Alibi-Kandidaten mit Migrationshintergrund ein Zeichen der Öffnung zu setzen und Stimmen aus dem Migrantenlager zu gewinnen, ohne Stammwähler zu verprellen. Dabei kommt es in erster Linie auf die Programme und Inhalte an und nicht auf den Kandidaten. Im Wahlkampf wird deutlich werden, wie die muslimischen KandidatInnen zur strukturellen Integration des Islam stehen werden. Vergleich wir: in den kommunalen Parlamenten haben nur etwa 5% aller Mitglieder einen Migrationshintergrund, wobei der Schwerpunkt bei den Linken und Grünen mit 8% liegt. Die SPD liegt mit 5% im Mittelfeld, die Unionsparteien sowie Liberale bei knapp 2%; der Migrantenanteil an der Gesamtbevölkerung beträgt 19,5%.
Unter diesen Umständen stellen sich viele Migranten nach wie vor die ernsthafte Frage nach ihrer Identität, Zugehörigkeit, Perspektive und vor allem über das Konzept des Zusammenlebens aller Menschen in der neuen Heimat. Denn hier, so scheint es, gehen die Meinungen zwischen Assimilation und Integration als Ergebnis einer neuen Gesellschaftsform weit auseinander. Der Staat und die Gesellschaft, in die ich mich integrieren und mit der ich mich identifizieren soll, unternimmt außer der Schaffung gesetzlicher Rahmenbedingen durch Integrationsgesetze kaum Maßnahmen, die tatsächliche Inklusion, Integration, Gleichberechtigung, Partizipation, Teilhabe, Chancengleichheit oder was auch immer, zu fördern und öffentlich für einen Paradigmenwechsel hin zu einer potentialorientierten Debatte zu sorgen. Es scheint, als ob die Integration prominente Akteure benötigt. Mesut Özil hat durch seine positiven Leistungen dafür gesorgt, dass selbst Kanzlerin Merkel die Zugehörigkeit des Islams zu Deutschland eingesehen hat - Ex-Präsident Wulff wurde für die gleiche Aussage zuvor öffentlich stark kritisiert.
Bestehende Vorurteile gegenüber Minderheitengruppen werden somit personifiziert, obwohl dieser womöglich gar nicht dem Vorurteil entspricht. Deshalb ist ein Umdenken dringend vonnöten, die nur die politische Führung anstoßen und die Zivilgesellschaft, Wirtschaft, Institutionen und besonders die Medien voranbringen können. Die Andersartigkeit muss endlich als gleichwertig anerkannt und in allen gesellschaftlichen Bereichen im Alltag ausgelebt werden können, ohne sich ausgegrenzt zu fühlen. Bleibt eine öffentliche, ehrliche und partizipative Debatte nämlich aus, wird eine identifikative nachhaltige Integration in die Aufnahmegesellschaft sich entsprechend entwickeln, nämlich halbherzig und nur so viel wie nötig.
Caner Aver