'Ihr seid nicht allein'

 

'Yalnız Değilsiniz' - 'Ihr seid nicht allein'

Gewiss, die FAZ hat recht, wir haben auch 'noch andere Herausforderungen', der Neonazi-Terror ist nicht die Einzige. Gerade eben müssen wir an vorderster Front um die Rettung des Euros kämpfen. Wir müssen die klammen Banken retten. Wir müssen die Europäische Kommission für ihren Pro-Atomkraft-Kurs rüffeln. Wir müssen Afghanistan helfen und gleichzeitig den Abzug vorbereiten. Wir müssen dem demografischen Wandel entgegenwirken und neben all dem müssen wir uns auch weiterhin mit Guttenberg rumschlagen. Wir haben also wirklich noch jede Menge andere Herausforderungen.

Und dennoch wird es auch dieses Mal um den Neonazi-Terror gehen, wenn auch nur am Rande. Im Fokus wird vielmehr das Treffen mit dem türkischen Außenminister Ahmet Davutoğlu stehen, das am vergangenen Sonntag in Köln stattfand. Der Grund für Davutoğlus Deutschlandbesuch war zwar die Neonazi-Mordserie, spielte jedoch bei dieser Zusammenkunft, bei der es eher darum ging, den hiesigen Türken ein Treffen mit dem höchsten türkischen Diplomaten zu ermöglichen, eher eine Randrolle.

Doch bevor es um den Inhalt der Veranstaltung geht, noch einige Sätze zu den geladenen Gästen, deren gehäufter Anblick mich schon ein wenig verwunderte. Deshalb, weil ich somit feststellen musste, dass ich in der türkischen Community zu einer seltenen Gattung gehöre: Frau. Von 200, oder etwas mehr Teilnehmern waren gerade mal ein Dutzend Frauen. Bevor mich jetzt die Eitelkeit überrollt und ich vom Hochmut erdrückt werde: Natürlich weiß ich es besser. Wir, die Frauen, mögen kostbar sein, aber eine Rarität sind wir nicht. Auch mangelt es uns, trotz aller Vorwürfe, nicht an politischem Interesse. Vielmehr ist es die Impertinenz der Männerwelt, die uns rar erscheinen lässt. Es ist die Struktur der Vereine, deren Vorstände fast reine Männerdomänen sind. Und ebenso ist diese Nichtpräsenz auch der Gedankenlosigkeit verschuldet, keinen Frauenverein eingeladen zu haben. Dabei wissen wir nur zu genau: Eine Gesellschaft, die nur unter sich bleibt, wird sich nicht weiterentwickeln. Erst recht nicht die Männergesellschaft.

Sonntage haben ja seit eh und je etwas tristes an sich. Deshalb sind an Sonntagen auch sämtliche Wellnessoasen rappelvoll. Man versucht diesem Trist zu entkommen, indem man der Seele etwas Gutes tut. So hatten auch dieser Sonntagnachmittag und diese Veranstaltung einen, eher unerwarteten, Wellness-Effekt. Jeder, der dort war, um sich die Seele streicheln zu lassen, ist auf seine Kosten gekommen. Botschaften wie 'Ihr seid nicht allein', 'Alles was wir tun, tun wir für euch', 'Wir arbeiten rund um die Uhr, damit es euch gut geht', waren der Rote Faden dieser Veranstaltung, die noch lange vor der Ankunft des Außenministers von seinen Delegationsmitgliedern gestreut und detailgetreu mit Inhalten gefüllt wurden. So erfuhr man beispielsweise, dass im Ministerpräsidium ein Stab errichtet wurde, der sich den Bedürfnissen und Lebenslagen, der im Ausland lebenden Türken widmet. Man erfuhr mehrmals, dass die Anwesenden der türkischen Regierung besonders am Herzen liegen und dass man alles daran setze, ihnen das Leben in der Ferne so leicht und angenehm wie möglich zu machen. Man erfuhr auch, dass man künftig sogar als nicht türkischer Staatsbürger via 'Mavi Kart' an den Wahlen teilnehmen kann.

Den Rednern sei an dieser Stelle gedankt, dass sie uns weitere Bemühungen, die es sicher geben wird, verschwiegen haben. Denn sonst hätte das Seele streicheln unvermeidlich ein schlechtes Gewissen hinterlassen. So aber hinterließ es nur offene Fragen. Letzteres, weil nach dem ausführlichen 'Was wir alles für Euch tun' eine kurze Fragerunde eröffnet wurde, deren Antworten ausblieben. Dabei wäre es durchaus interessant gewesen zu erfahren, warum die junge Studentin Feyza Yıldırım, die die Frage in fließendem Türkisch stellte, kein Praktikum in dem türkischen Außenministerium absolvieren darf. Sie erfüllt eigentlich alle Voraussetzungen, bis auf eine: Sie ist keine türkische Staatsbürgerin - das hindert sie dank der Mavi Kart zwar nicht daran, an den Parlamentswahlen teilzunehmen, oder ihr Erbrecht anzutreten, aber ein Praktikum, sorry, das wäre dann zu viel des Guten. Zur Klarstellung: Diese und weitere Fragen wurden nicht beantwortet, weil just in der Antwortrunde der Außenminister eintraf. Das heißt nicht, dass das Ausbleiben der Antworten dem Außenminister in Rechnung zu stellen ist. Nein. Diese geht auf die Kappe seiner Delegationsmitglieder, die vor lauter 'Wir tun jenes, wir tun dieses' das 'Was möchtet ihr?' vergaßen.

Ahmet Davutoğlu ist vielleicht nicht so charismatisch wie sein Chef und nicht so beliebt wie der Präsident, bringt dafür aber eine intellektuelle Schärfe mit, die gerade im Ausland für jene Anerkennung sorgt, die seinem Posten in Vergangenheit oft verwehrt blieb. Deshalb war die Freude auf ihn und seine Rede besonders groß. Der Anspruch besonders hoch.

Ahmet Davutoğlu blieb mit seiner Rede nicht hinter den Erwartungen. Seine Rede war zwar kein geistiges Feuerwerk, aber seine Worte waren sehr durchdacht, die Rede äußerst strategisch. Sie erfüllte vor allem die Erwartung, jedem und allem gerecht zu werden, ohne seicht oder anbiedernd zu wirken. Ein Kunststück, das nicht immer und nicht jedem gelingt.

An dieser Stelle macht es Sinn, die Rede des Ministers in zwei zu teilen, in Anfang und Ende.

Am Anfang ging es um den eigentlichen Anlass seines Besuches, deren entscheidende Kriterien Mitgefühl und Verständnis waren. Davutoğlu gelang es, das Empfinden der Familien, die Opfer des Nazi-Terrors wurden, gut zu rekonstruieren, sich in ihre Lage zu versetzen und an ihrem Leid Anteil zu haben. Er berichtete über die Gespräche, die er mit den Familien führte, was ihm die Frauen und Kinder der Mordopfer berichteten, welchen Demütigungen sie ausgesetzt wurden - nicht nur seitens der Behörden, sondern auch seitens ihrer Nachbarn und Bekannten. Er beschrieb sehr einfühlsam und gleichzeitig mit der richtigen Dosis Wut, wie die Familienangehörigen neben ihrer Trauer noch damit beschäftigt waren, ihre eigene Unschuld zu beweisen. Er erzeugte mit seinen Worten Gänsehaut und nahm das Publikum mit. Mit in die Wohnzimmer und in die Herzen dieser Menschen - und machte dann doch den Fehler, die Neonazi-Morde in die Integrationsdebatte einzuflechten. Er gab die 'bitteren Worte' der Tochter eines der Opfer wieder und sprach von seiner darauffolgenden 'Erschütterung'. Die junge Frau habe ihn gefragt, was sie denn hätte noch alles tun müssen, außer fließend deutsch zu sprechen und wie eine Deutsche zu leben, um als integriert zu gelten. Was, außer sich gut genug zu integrieren, hätte sie noch tun sollen, damit sie ihren Vater hätte behalten dürfen? In der Tat, dies sind bittere Worte. Die Worte der jungen Frau sind in ihrer Trauer und in ihrer Wut verständlich, sie sind nachvollziehbar. Unangemessen und Fehl am Platz sind sie jedoch aus dem Munde des Außenministers. Sie sind Fehl am Platz, weil er damit das Thema Integration mit dem Thema Rassismus vermischt, was ein fataler Fehler ist. Ein Rassist, ein Nazi verfolgt eine Ideologie, die nicht alle Menschen für gleichwert hält, die die eigene Rasse über alles stellt und die allen anderen die Würde abspricht. Einem Nazi ist es so ziemlich egal, ob ein Migrant gut oder schlecht integriert ist - im Zweifel ist ihm der gut integrierte Migrant ein größerer Dorn im Auge. Das, was für ihn das Entscheidende ist, ist dass sein Opfer, ganz gleich ob Migrant oder ein Mensch mit Behinderung, nicht in sein krankhaftes eugenisches Raster passt. Die Vermischung der Nazidebatte in die der Integration ist nicht zuletzt deshalb ein fataler Fehler, weil sie auch latent suggeriert: 'Egal wie gut integriert wir sind, wir werden nie einer von ihnen sein.' Ich für meinen Teil möchte auch gar nicht ein Teil der Nazis sein, klar ist aber, dass diese Aussage sich nicht auf die Nazis, sondern auf 'die Deutschen' beziehen wird - deshalb falsch, deshalb fatal und deshalb gefährlich!

Nun kann man einem so klugen Mann wie Davutoğlu nicht unterstellen, er habe diesen Satz aus Fahrlässigkeit gesagt. Auch nicht, dass er damit nur das Empfinden der jungen Frau wiedergeben wollte. Dass er diesen Satz auch in den wenigen Zeilen der Außenansicht in der Süddeutschen Zeitung (08. Dezember 2011) wiederholte, zeigt: Er setzte diesen Satz bewusst ein. Bewusst, um damit all die Integrationskritiker, von denen es ja etliche gibt, Mundtot zu machen. Dennoch bleibt diese Vermischung falsch. Sie ist und bleibt falsch und spricht der Integration ebenso den Selbstzweck ab. Eine gelungene Integration nützt an erster Stelle mir selbst, öffnet mir Perspektiven und bietet mir Chancen, die mir ohne sie vielleicht verwehrt geblieben wären. Ich integriere mich nicht, weil ich möchte, dass man mich aufnimmt, ich integriere mich, um mitentscheiden zu können, um selbst entschieden zu können, wo ich stehen will. Ich integriere mich, weil ich das Schicksal selbst in die Hand nehmen möchte, statt mich von ihm treiben zu lassen.

Es wäre zu verkürzt Davutoğlus Rede auf diesen Nebensatz, so brisant er war, zu reduzieren. Es wäre verkürzt und es wäre nicht fair. Der Minister sprach ebenso davon, dass die türkische Regierung den Kindern dieser Familien ein Stipendium zur Verfügung stellen wird. Er versäumte es auch nicht, dass Publikum darauf hinzuweisen, dass diese Nazimorde letztendlich nur Einzeltaten sind und dass man deshalb nicht die gesamte deutsche Gesellschaft unter Generalverdacht stellen kann. Ebenso wenig vergaß er, von seinen Forderungen an deutsche Politiker zu berichten, von denen er eine lückenlose Aufklärung der Taten erwartet.
Somit hatte dieser Teil seiner Rede eigentlich alles was eine gute Diplomatenrede ausmacht: Verständnis, Mitgefühl, Fürsorge, Besänftigung, Seelengröße, Forderung.
Eigentlich.

Am Ende ließ es der Minister - mit Verlaub - wahrlich krachen. Zweifellos kann man hier von einer 'Wiederbelebung der Osmanischen Geschichte' sprechen - sofern man gutwillig ist. Böswillig könnte man ein Leiden an Größenwahn diagnostizieren. Waren wir vor Jahrhunderten mal eine wichtige Größe, so waren wir durch den wirtschaftlichen Aufschwung heute wieder auf dem besten Weg dahin. Die Türkei direkt hinter China - das hört man gern, das beflügelt. Dabei ist der unaufhaltsame wirtschaftliche Schwung (der uns nach eigenen Aussagen in der Oberliga, nach Aussagen einiger Auslandsexperten gerade mal in der 4. Liga spielen lässt) nur eine Seite unserer Stärke. Die Andere ist unser weltweiter sozialer Einsatz. Wir waren nicht nur nach dem verheerenden Erdbeben in Haiti die ersten, die vor Ort waren um zu helfen, nein, wir waren auch in Somalia, wir waren in Pakistan - wir sind da, wenn man uns braucht. An den Auslandseinsätzen muss es deshalb auch gelegen haben, dass wir in Van nicht da waren um nötige Soforthilfe leisten zu können bzw. anderen Ländern diese verweigert haben und erst Tage später für uns selbst da sein konnten.

Davutoğlu redete lange, sagte viel, sprach sehr ruhig und gab seinen Zuhörern nicht eine Sekunde das Gefühl, dass er es eilig habe, oder das dies ein Pflichttermin sei. Im Gegenteil. Er ging sogar an der einen oder anderen Stelle auf die Zurufe des Publikums ein. Auch er streichelte in der Mitte seiner Rede - die hier ausgeklammert wurde - die Seelen der Anwesenden. Auch er berichtete über alles, was für 'uns' getan wird, und auch er versicherte uns, wir seien nicht allein. Die türkische Regierung stünde hinter uns.

Jetzt kann ich persönlich, und viele in meiner Generation, mit diesen Floskeln wenig anfangen. Auch fühlt sich meine Seele dadurch nicht gestreichelt. Die Einzigen, die sich dadurch wirklich geschmeichelt fühlen, sind die der ersten Generation, zu der auch die Mehrheit der Teilnehmer gehörte. Insofern kann eigentlich weder den Delegationsmitgliedern, die für das 'Vorprogramm' zuständig waren, noch dem Minister selbst vorgeworfen werden, sie hätten nicht den Puls des Publikums getroffen. Dennoch hätte ich mir gewünscht, dass an diesem Nachmittag auch etwas für mich, etwas für meine Generation dabei ist. Etwas mehr für diejenigen, die sich Deutschland verbunden und sich hier wohl fühlen, die dieses Land als ihr zu Hause wahrnehmen. Für diejenigen, die sich nicht vereinnahmen lassen möchten, weder von der einen noch von der anderen Seite. Für diejenigen, die sich hier auch ohne die Türkischen Regierung nicht allein fühlen.

 

 

Serap Güler