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 29/02/2016
 

Wann sind wir dran?

Aufnehmen. Annehmen oder Ablehnen. Weitergeben. Ganz simpel heruntergebrochen ist das das Prinzip eines Gesprächs. Es ist für mich auch der Grundsatz des Lernens: Aus der Universität in Deutschland bin ich es gewohnt, in Seminaren diese drei Schritte mit meinen Kommilitonen und meinem Dozenten gehen zu können. Bei meinem Auslandssemester in der Türkei jedoch blieb ich still. Der ganze Raum blieb still. Und nahm einfach nur auf.

Ich habe ein ERASMUS-Semester in der Türkei verbracht. In Eskisehir besuchte ich eine der größten Universitäten des Landes, die Anadolu Universität. Europa war hier ganz nah – in den Vorlesungen auf Englisch ebenso wie in den Köpfen meiner Kommilitonen. Bildung wird so groß geschrieben in der Türkei – ich erwartete mir viel von meiner Zeit in türkischen Vorlesungssälen.

Dann Ernüchterung. Gelernt wird hier im Frontalunterricht, niemand fragt mich am Ende eines Vortrags nach meiner Meinung. Eine deutsche Freundin und ich bereiteten ein Referat vor und stellten am Ende, wie wir das eben gelernt haben, Diskussionsfragen. Der Raum blieb wieder einmal still, die Vorlesung endete frühzeitig. Ist halt so. Meine türkischen Freunde sind das gewohnt, ich höre Sprüche wie „Studenten sollten in den ersten Semestern erstmal die Informationen sammeln, diskutieren kann man doch während des Masters.“ Doch während ich den ewigen Monologen meines Professors nur noch mit einem Ohr zuhöre, erinnere ich mich an deutsche Vorlesungen. Ich sehe vor mir, wie Studentinnen den Saal verlassen, weil mein Professor Ursula von der Leyen als „Flintenuschi“ bezeichnet hat. Ich denke an Momente, in denen eine Diskussion die Anwesenden so entzweite, dass noch auf dem Weg zur Mensa politische Reden geschwungen wurden. Und ich vermisse den typischen Satz meiner Dozenten am Ende eines Vortrags: „Gut, dann lasst uns da mal drüber reden.“

Ich glaube, dass das Reden den türkischen Studenten fehlt – viele wissen es nur nicht. Wie oft habe ich über einem abendlichen Cay oder Efes Bier Diskussionen über Religion, Politik und die Stellung der Kurden geführt und festgestellt, dass mein türkischer Gegenüber sich mit seiner Haltung keinen Zentimeter vom Platz bewegt. Gespräche bleiben stehen, weil niemand in einem offenen Diskurs gelernt hat, mit anderen Standpunkten konstruktiv umzugehen. Zuhören. Annehmen oder Ablehnen. Weitergeben. Ich habe oft das Gefühl, mein Gegenüber hat den entscheidenden Mittelschritt übersprungen, hat nur irgendwem zugehört und gibt dann weiter. Es fehlt der entscheidende Schritt, den man nur geht, „wenn man mal drüber redet“.

Die türkischen Universitäten haben das Potential. Sie haben schlaue, wissbegierige Studenten, die Bildung schätzen, als ein Geschenk und eine Verpflichtung. Und nach einem Semester Schweigen und Kopfnicken denke ich mir: Nehmt diese klugen Köpfe doch bitte in die Pflicht! Lasst sie kämpfen, aufbegehren, anecken! Tadelt sie nicht mit schlechten Noten, weil sie eure Theorien hinterfragen, weil sie „Nein“ sagen zu eurer Lehrmeinung – sagt „Ja!“ zum Diskurs. Annehmen oder Ablehnen – das, und vor allem das, muss ein Student lernen. Die Reflektion von Inhalten und deren Bedeutung für ihn selbst. Ich persönlich möchte nicht, dass ich mir nur notiere, was Inhalte für meinen Professor oder das Lehrbuch bedeuten. Ich will das selbst entscheiden und genau dafür bilde ich mich weiter.

Wenn alle anfangen, zu sprechen, zu fragen, zu kritisieren, dann wäre das eine vielversprechende Entwicklung für dieses zerrissene Land. Dann unterhält man sich. Nimmt Standpunkte an oder lehnt sie ab. Gibt weiter. Ob Politik oder Religion – es könnte vieles einfacher werden. Das Zuhören bekommen meine türkischen Kommilitonen schon hin. Ich bitte meine türkischen Professoren jetzt aber, ihnen Raum für den Rest zu lassen, ab und an die Bühne frei zu machen, ganz nach dem Motto: „Jetzt seid ihr dran.“ Dann verlässt vielleicht auch mal jemand den Saal oder Professoren tänzeln gefährlich weit außerhalb ihrer Komfortzone. Ich bin der Meinung, dass erst dann Bildung wirklich beginnt.  


Konstanze Nastarowitz